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Samstag, 26. Dezember 2015

022 Minutenstück






















Ich ernte diese Minute auf dem sonnigen Berg,
wo ich leuchtend an euch alle denke.

Ich spüre, dass die Schattenhinter mich fallen
wie verschwindende Wesen,die es scheinbar nie gegeben hat.

Ich ernte diese Minute, als wäre sie der beginnende Tag 
oder das neue Jahr, das drüben bereits wartet.

Sonntag, 20. Dezember 2015

021 Advent


Die Düfte sind umsonst, die kann niemand zurückhalten hinter den Sperrholzwänden der Buden. Weihnachtslieder schwingen in seltsamen Schleifen durch die Frühlingsluft. Ich versuche, aus dem Pappschnee eine Stimmung heraus zu schneiden, was mir mit Hilfe von Klingklang vortrefflich gelingt.

Ich laufe durch meine Sammlung dunkler Stunden und gebe all mein Gold für ein erleuchtetes Fenster, hinter dem sich jemand aufhält. Diese Worte habe ich gestohlen aus meinem eigenen Lied vom letzten Jahr. Wie treu ich mir doch inzwischen geworden bin. 

Ich filtere einen Splitter Besinnung aus dem Lärm, den die falschen Lichter überall hin schreien, aus den spärlichen Schatten, die sich hinter der Kulisse verbarrikadieren. Ich will nur eine Zeile schreiben oder zwei, um einen Augenblick lang jemanden glücklich zu machen.


Mittwoch, 25. November 2015

020 Café Central, Madrid


















Ich wehe durch die windigen Straßen wie Jazz.
Hinter unserer gewohnten Tür
flackert eine schweigsame Laterne,
schaukelnd wie regnerische Abende
in der Calle de las Huertas.
Was ich auch tue,
immer lande ich bei den Schatten,
die sich im Café Central treffen
in der Gestalt anonymer Helden.
Wo der Trompeter
im Nebenraum nach seinen Tönen sucht,
die sich in der stürmischen Luft verloren haben.
Wo vorne gegenüber des großen Spiegels
eine Frau einem Mann
die blauen Noten aus den Augen liest,
als wolle sie die Zukunft
in einen Schwarzweißfilm zurückverwandeln.
Wo du vielleicht an einem dieser Bistrotischchen
auf mich wartest
oder im feuchten Laub vor der Tür.
Ich wehe durch die windigen Straßen wie Jazz.
Mit der Ruhelosigkeit des Umherziehenden
halte ich Ausschau nach einem trockenen Ort, 
um dort mein Streichholz zu entzünden.

019 Der Retiro am 1.November (Stadtpark von Madrid)


“El Retiro tiene las dimensiones exactas de la melancolia.” (Juan Garcia Hortelano)

Madrid flaniert mit Kind und Kegel durch einen Sonntag aus raschelndem Laub, bunte Vergänglichkeit zwischen spitzen schwarzen Schuhen. Auf hübschen Gesichtern schimmern die Reste der Allerheiligenschminke, und im jungen Flamencoblut vergnügen sich noch die dickflüssigen Getränke von gestern Nacht. Der Kontrabass einer Dixielandcombo vibriert die standhaften Platanen, während die leuchtende Münze eines kleinen Mädchens in den Hut klimpert, der auf dem Spazierweg liegt,als hätte ihn ein tanzender Caballero dort fallen gelassen.
Mit rudernden Liebespärchen im Innern klingen blaue Schiffe über den See. Nackte Göttinnen strecken ihre glänzenden Brüste ins leisgedrehte Licht. Eine zurückhaltende Sonne spiegelt die Fenster des Palacio de Cristal in unsern Augen. Auf einer Bank liegt eine junge Frau mit einem Blatt Papier in Händen, auf dem sie unsichtbare Gedichte entdeckt hat. Die Kartenleserinnen mogeln und verschweigen den möglichen Regen, der bereits in aufgetürmten Wolken auf ein Zeichen wartet. Aber auch der versunkene Guitarrero tupft nur nachsommerliche Töne zwischen seine Saiten.
Nachdem die trägen Tauben im Streit mit den quirligen Sperlingen um ein paar Krümel Weißbrot unter einem Cafétisch ihre Niederlage zugegeben haben, lassen sie sich, beleidigt und stolz, auf den Köpfen der steinernen Löwen nieder - ohne Respekt vor der gesammelten Würde der Könige, während wir mit drei fettigen Churros gemeinsame Sache machen und in der heißen Schokolade versinken.

018 Warum

Wir dürfen niemals vergessen,
warum wir hier sind:
Schönheit
& Herbst
& Kaffee.

017 Bei den Ateliers hinterm Hauptbahnhof


Es beruhigt mich das dunkle Unterholz, die Überwachsungen der Natur, die liegengebliebenen Ford Transits hinterm Buschwerk mit Kartons, ausgetrunkenen Bierflaschen und vergilbten Zeichnungen befüllt, die Regentonnen und die rostigen Tischchen mit Pfützen darauf, auch die Fahrräder mit platten Reifen, die irgendwo lässig lehnen, dort bei den Ateliers auf Abruf, diesen alten morschen Häuschen, die das Efeu längst eingeholt hat. Ab und zu noch wirbeln vorüberfahrende Züge Staub auf, der sich über alles legt wie ein schützender dünner Mantel auf Zeit.
Nur das Kind, das aus dem Baumhaus springt, in welchem es heimlich wohnt wie ein Eichhörnchen, will nicht so recht hineinpassen in diese vergehende Welt, wie es da versucht, mich mit einem Lachen abzuwerfen, ein Versteckspiel beginnend, in dem mir nur eine Nebenrolle zugedacht ist, nämlich die, es ab und zu wie einen kleinen Verfolger hinter irgendeinem Mäuerchen oder im Dunkel eines Brombeerstrauchs einen Augenblick lang zu entdecken.
Auch ich möcht mich am liebsten verstecken vor all den Rechnungen und den Planungen dort unter den grünen Schatten, dort bei den Spiegelungen der Birken in grünpatinierten Wasserbassins, dort in dieser Zufluchtsstätte aus wildem Wachsen, - so lange, bis jemand mit der Abrissbirne winkt.  

016 Geheimnis


















Er ist ihr Geheimnis. Sie entdeckte ihn an einer dieser Wegkreuzungen, an denen man sich fragt, wohin man von nun an leben soll. Seitdem erfinden sie sich ständig neu und sie finden sich darin wieder. Ihre seltenen Begegnungen zünden ein jedes Mal Feuerwerke an. Keine allzu lauten, sondern die, deren Explosionen man hinter den Hügeln in der bretonischen Ferne hört.

Er ist ihr Geheimnis. Sie hat ihn überall dabei. Wenn sie auf Reisen geht, verbirgt sie ihn wie eine Murmel in ihrer Hosentasche. Oder wie einen Schlüssel zu einer Art von Glück. Sie denkt an ihn, wann immer es ihr möglich ist. Und wenn nicht, dann denkt sie sich Geschichten, in denen sie ihn zwischen die Zeilen schmuggelt. Sie schickt ihm Botschaften, die sich manchmal in winzige japanische Gedichte verwandeln.

Er ist ihr Geheimnis. Er ist ein seltsamer Zeitgenosse, der sich hinter Lampions versteckt. Er ist ein Fremder, der daheim vor dem Spiegel das Lächeln übt. Bisweilen treffen sie sich in ihren Träumen, mitunter aber auch mitten am Tag. Und ab und zu sendet er Zugvögel aus, um sie zum Süden zu überreden. Sie aber geht lieber am Strand entlang und sammelt den frischen salzhaltigen Wind.

Er ist ihr Geheimnis. Sie trägt ihn verkleinert wie Pan Tau in einer Schuhschachtel quer durchs nächtliche Europa. Und nur an manchen ausgesuchten Orten zaubert sie ihn groß und schaut ihn so lange an, bis er nicht mehr ein noch aus weiß vor Berührung. Immer wieder verschwindet er, um irgendwo mit einem Kranich aus Papier, der auf seinen Fingerspitzen tanzt, von Neuem zu erscheinen.

015 Der Sizilianer

Der weißhaarige Sizilianer mit der Hornbrille, auf dem Kopf einen Hut aus der Zeit, als die Mafia noch groß war, geht diesen Abend wieder von Tisch zu Tisch und von Kneipe zu Kneipe, schmettert italienische Schlager mit einem Pathos in der Stimme, dass so mancher Opernsänger neidisch werden könnte. Er trägt seinen gefährlichen Anzug und um den dünnen Hals eine schlecht geknotete Krawatte - rot wie Blut. In einer versteckten Tasche verbirgt er eine Pistole, die manchmal aufblitzt, wenn das Licht einer Straßenlaterne auf sie fällt. Er verwickelt dich in ein Gespräch und den Damen gibt er in galanter Handbewegung Feuer. Er dreht sich um dich, als wollte er dich wie ein Opfer einkreisen, bis es kein Entrinnen mehr gibt. Nur das Körbchen, mit dem er Münzen sammeln geht, will nicht so recht zu ihm passen, und auch nicht die Freundlichkeit, die hinter dem Messer zwischen seinen Zähnen hervorblitzt. Als die Arbeit getan ist, setzt er sich ins „Grüneberg“ an einen leeren Tisch, sieht ein wenig entrückt den hin und her laufenden Fußballern auf dem Flachbildschirm zu und nippt ab und zu an der Tasse Pfefferminztee, die er hier allabendlich umsonst erhält. Dazu gibt’s als Wegzehrung ein paar neue italienische Flüche oder ein paar Machosprüche, die ihm die Kellner ebenfalls kostenlos kredenzen. Das ist alles, was er jetzt noch braucht für den Heimweg in die sommertrunkene Hamburger Nacht.

014 Wildnis

Indianerschilf, Sommerröhricht am See, Lanzen und Federn, Schmuck der Wildnis, wo keiner von uns jemals hinkommt, sonst ist er ein toter Mann. Für Sekunden nur hab ich mich heimlich hinter eine dieser Schutzhütten geschlichen, um von dort aus durchs Geäst zu spähen und nachzusehen, ob sie noch da sind mit ihrer Körperbemalung in ihrer nackten Schönheit, ob sie noch leben dort in ihren Zelten, bei den schwelenden Feuern und den Totempfählen, ob sie noch immer in Trance übers Wasser des Sees gehen und mit ihrem Vogelblick ferne Adler anrufen, ob sie noch tanzen wie Funken, ob sie noch wissen, auf welcher Seite des Ufers die Wahrheit zu finden ist, oder ob sie auch nur noch Jeans tragen mit aufgenähten Tomahawks, gekauft wie all die andern. Und hören wollte ich mit verborgenen Ohren, ob sie noch singen und ob sie noch trommeln. Herausfinden wollte ich, ob noch was übrig ist vom Rauchgeruch und von den heilenden Ritualen. Und ob ich beruhigt schlafen kann, da meine große Angst die unüberwindbare Begradigung ist und die unendliche Abmeterung und die Regelung allen Seins und die Versicherung und dazu die ständigen kleinen Betrügereien, die unter sauberen Westen versteckt werden.
Könnte ich sie nur herbeiholen wie früher, die tapferen Krieger, sie zu Hilfe holen wie der kleine Junge mit der Phantasie.
Manchmal frage ich mich sogar, ob nicht auch sie bereits vorsortiert sind, und ob das Schilf die vorgeschriebene Höhe auch nicht übersteigt. Und ob man vielleicht zum Schutz dieser aussterbenden Rasse irgendwo unter den heißen Steinen eine Brandmeldeanlage eingebaut hat.

013 Place Leopold, heftige Abendsonne (Luneville)

Hitze, diese unabänderliche, ausweglose, die wenigen,
bereits besetzten Schattenplätze bersten und schreien: Her mit
den Zweiliterflaschen, bis die Regale leer sind! Der
Eisfrau gehen die Tüten aus. Unterm Cafetischchen
huscht eine Amsel durch und wünscht sich
ein leichtes, weißes Federkleid. Schulmädels
tuscheln vorgeglüht auf steinernen Bänken
ihren ersten Männern hinterher. Nicht einmal
die Schildmützenjungs führen heute was
im Schilde, am liebsten würden sie sich einfach nur
in Kühlschränken verstecken. Viel zu schnell
gleiten mohammedanischen Männern ihre Gebetskettchen durch
die schwitzenden Finger. Verzweifelte Einkaufstaschenfrauen
suchen vergeblich dunkle Unterkünfte für ihre
Handtaschenhündchen. Tauben gurren um
trockene Bagettekrümel herum und sind doch
eigentlich am Verdursten. Während ich
so schaue, rutscht mir ein Schweißtropfen ins
rechte Auge und verursacht einen
salzigen Blick. Nur die Kinder
springen wie losgelassenes Gelächter in den
Springbrunnen umher, lebendig wie
Wasser, fröhlich wie
der Tag, ein einziges
ausgewildertes Jetzt.

012 Nostalgia

Die Stadt, in der ich kleiner war und jünger als heute, ist zerfranst zu einer Postkartenansicht, die ich im Briefkasten finde. Sie sonnt sich im besten Sechzigerjahrelicht, wird zur sentimentalen Idylle aus Sommerhimmel mit geschickt platzierter Wolkenformation und idealem Standort von Brücke und Burg. Jetzt, da dieser gedruckte Blick so vor mir liegt, von Sonnenflecken verwöhnt, die sich durch die Zwischenräume des heruntergezogenen Rollladens schleichen, geht wieder und wieder diese unsichtbare Tür auf zu Menschen, Häusern und Zimmern, Umgebungen, Stimmungen, Menschen, immer wieder Menschen. Als hätte mir ein unbekannter Jemand eine Kinoeintrittskarte in die Hand gedrückt für einen Film mit den eigenen rotstichigen Bildern, von denen nur die freundlicheren geblieben sind.

011 Oh wie ich wollte

Wie sehne ich mich
am Rande dieser Stunden
nach einer Nebensächlichkeit,
die mich wärmt und
die mich lächeln lässt.

Und wie gerne ginge ich
mit den Räubern,
würden sie die Belanglosigkeit
mit einem scharfen Messer
aus dem lähmenden Alltag schneiden.

Was gäbe ich nicht alles für den Zufall,
damit er um meine Geschäftigkeit
einen Haken schlägt,
um mich einen Augenblick lang
um den Verstand zu bringen.

010 Auf deine Weise schauend

















Es sprach das Kind vom letzten Jahr:
dies ist die Hülle, die von mir blieb.
Ich hab mich längst davon gemacht
in eine andre Zeit,
die größer ist und bunter noch.
So soll es sein,
denn niemand weiß,
und jeder geht.
Aber eins wählst du doch,
auf deine Weise schauend,
für dich aus:
den bunten Ball oder
das dreckige runde Ding,
das da als Überbleibsel
in einem verwilderten Garten liegt.
Und wie du sehen willst,
so machst du dir
die Welt.

009 Chinatown, London







Der alte Chinese, der vor dem Laden sitzt, sich von der abendlichen Sonne bescheinen lässt und durch die Welt hindurch zu schauen scheint... Aber da sind die Jungs, die nicht locker lassen, ihn ständig wieder in die Gegenwart zurück zu holen, um ihm freudig einen glühenden Papierdrachen mit auseinanderziehbarem Seidenpapierkörper vorzuführen.

008 Idylle


















Dieses Mal verschicke ich keine Idylle, so schrieb ichs mir in meinen Notizblock, den ich auch über Ostern in London ganz traditionell bei mir trug, allerdings aufgrund einer starken Erkältung brachte ich nur zusammenhanglos Rudimentäres hervor, was auch mal sein muss. Und so kommt aus dem großen London auch keine Westminster Abbey und keine Tower Bridge, noch nicht einmal der blühende Hyde-Park, den doch tatsächlich der ein oder andere Sonnenstrahl heimgesucht hat, sondern eine Leuchtreklame im Underground für ein Theaterstück, das englischer und poppiger nicht sein kann, (habs mal als Film gesehn) und das wirkt wie ein Reststück vom „swinging london“, dem man in meinem Alter schon mal gerne nachhängt, (obwohl damals selber noch zu jung gewesen, ums tatsächlich zu erleben). Immerhin ists ein freudestrahlender Junge aus ärmlichen Verhältnissen, der mit dem goldenen Ticket einen exklusiven Besuch in einer phantastischen Schokoladenfabrik gewinnt. Also doch eine Idylle?

007 Klavier


Das alte Klavier mitten im geleckten Bahnhof St. Pancras International in London: Ein seltsamer Treffpunkt für die ewig Gestrigen? Ein Zeitvertreib für umhertreibende Kinder? Ein überdimensionierter Übungsraum für zukünftige Pianisten? Eine musikalische Ausdrucksmöglichkeit für dahinscheidende Liebende? Was auch immer und wofür auch, da steht es wie ein Fremder, der den falschen Zug genommen hat und sich in einer anderen Zeit wiederfindet oder in einer unpassenden Situation, fast schon peinlich... Aber bei genauerer Betrachtung ist der Fremde ja genau der, der jeder von uns sein könnte hier an diesem Ort.Da steht es, und jeder darf auf ihm was spielen, der gerade eine Abschieds- oder Ankunfts- oder eine Schicksalsmelodie im Kopf oder auf dem Herzen hat.

006 Café Eiles (Wien)


















Die Dämmerung treib ich
dem November nicht aus dem Gesicht.
Auch die Pfützen beharren
auf ihrer Daseinsberechtigung
in den grauen Gassen.
Doch spiegeln sich Riesenräder darin
gelegentlich,
und Mozartkugeln baumeln glänzend
von den kahlen Bäumen des Stadtparks.
Morgens schlecke ich mir
die Marillenmarmelade aus meinen Mundwinkeln,
flaniere bis zum nächsten Kaffeehaus
und verweile.
Über meinem Tischchen
verlassen schwarzweiße Filmstars ihre Bilderrahmen,
um sich in unbeobachteten Momenten
in mein Herz zu schmuggeln.
Und selbst die Zeitungen von gestern
finden hier noch jemand,
der sie liest.

005 Flugschrift


 
   














Ein Vogelzug schreibt zwei Pfeile 
an den abendlichen Himmel.
Ein geflügelter Gleichklang erfindet
einen Haiku aus Federn und Ferne
und erinnert uns daran,
dass auch wir
auf Reisen sind.

004 In einer Bar, Rue Gambetta (Sarlat, Dordogne)

Das ist mir tausendmal lieber als die ständige Idylle: das Straßencafé, wo es die Abgase reinbläst, schmutzige kleine Tische, ein unfreundlicher Kellner, verblichene Preise, Leute aus der Gegend, die sich die Hand schütteln, heiseres Gelächter, Fußballbildschirme im Innern.
Ein französischer Mann dieser Gegend lässt seinen verbeulten Peugeot mit laufendem Motor einfach in der Gasse stehen, springt raus, rennt einen Passanten um, schreit und lacht mit den Freunden in der Bar, trinkt einen kleinen Kaffee, rubbelt die Niete aus seinem eben gekauften Los. Und bevor der Passant sich von seinem Schreck erholt hat, ist der Kerl in seiner Rostbeule schon wieder um die Ecke und hat sich im Fahren noch schnell eine Zigarette angesteckt.

003 Voodoo Firlefanz - LESEPROBE

Country-Song
Für Nils Koppruch

Ich liebe die sprechenden Zimmer und die hundertfach gebrauchten Tapeten. Ich lasse den Geruch von Schlaf zurück und eine verkehrsreiche Straßenkreuzung, das Schild einer Ortschaft und Bauernjungs, die den ersten Flüchtling ihres Lebens erblickt haben. Ich lasse einen Automaten zurück und eine Münze, die darin stecken bleibt. In einer wettergeschützten Ecke hocken Obdachlose wie Blätter, die der Wind dorthin zusammengeweht hat.
Manchmal, da muss gar nicht viel passiern, da genügen Zigaretten und Rotwein für ein Lied und irgendein flimmerndes Bild. Und ein Lastwagen, der dich blendet, während du auf einem Parkplatz stehst und dir vorstellst, dass hier die Reise beginnt.

Und die Dorfschönheiten tragen Girlanden um den Hals, und Billyboy macht den Jägermeisterversuch. Ein paar Kinostühle warten draußen mit nasskalten Polstern auf die Krähen, die den Morgen um sich versammeln wie einen Nervenzusammenbruch.  Die heiligen Klänge der Sonntagskirchenglocken versinken in grauen Pfützen. Noch immer trägt der Pfarrer seine weiße Weste zur Schau, die ihm nicht einmal die Kommunionmädchen mehr glauben.
Manchmal, da muss gar nicht viel passiern, da genügen Zigaretten und Rotwein für ein Lied und irgendein flimmerndes Bild. Und ein Lastwagen, der dich blendet, während du auf einem Parkplatz stehst und dir vorstellst, dass hier die Reise beginnt.

Gott ist so schnell wie ein Motorrad, diesen Satz hat ein Kind neben ein Bild gekritzelt. Als er die Höchstgeschwindigkeit überschreitet, wird er von der Polizei angehalten. Da macht er einen auf unsichtbar und lässt ihnen seinen Führerschein da, der sich wundersam in eine fliegende Bibel verwandelt. Und die schöne junge Polizistin hat nur einen gutgekleideten Mann gesehen, der ihr eine falsche Handynummer zugesteckt hat, und sie hat beide Augen zugedrückt.
Manchmal, da muss gar nicht viel passiern, da genügen Zigaretten und Rotwein für ein Lied und irgendein flimmerndes Bild. Und ein Lastwagen, der dich blendet, während du auf einem Parkplatz stehst und dir vorstellst, dass hier die Reise beginnt.

Ich blieb mir treu in den Jahren

Ich blieb mir treu in den Jahren des verdorbenen Fleisches und in den Jahren der zerstrittenen Paare, ich ging auf meinem Holzweg aus Passion von Schuppen zu Schuppen, hielt an vor den verschlossenen Türen und spähte dahinter, ohne dabei wirklichen Menschen in die Augen zu schaun. Ich pflegte mein Universum aus Gelegenheitsverrückten und stellte einen dummen August nach dem andern an die Spitze des Trauerzugs. Immer wieder sprach das Auge der Liebe zu mir trotz Nieselregen und abgerissenen Plakaten.

Ich blieb mir treu in den Jahren der zerronnenen Unschuld und in den Jahren der einsamen Herzen, ich genoss meinen Hausgang, den mir ein jeder freiwillig überließ. Die letzte Fledermaus hat ihren Halloween-Auftritt verpasst. Armes Wesen! Willkommen auf dem Zwischendeck. Hier riechts nach Öl und Feuer, aber dafür macht dir niemand deinen Platz streitig. Der lodernde Sonnenuntergang endet im Innern einer Essiggurke. Gläubige Verwandlung! Ich wilderte hinter Buchdeckeln, suchte nach Anmut und traf Hannah, die sich diesen Namen gegeben hatte, um mir einen schönen Klang ins Herz zu schmuggeln.

Ich blieb mir treu in den Jahren der ungebändigten Fadogesänge und setzte ihren zerbrochenen Versen ein Denkmal, deren unsichtbarer Glanz nun im Verborgenen blüht. Als mir die Stimme wegblieb, wusste ich: ich hatte zu viel gesagt. So verweile ich lieber beim Ablesen verschlüsselter Botschaften, die ich bis auf Weiteres heimlich in der Dunkelkammer schreibe. Streck deine Beine in die Höhe, irgendeiner wird sie schon ins rechte Licht rücken. Ich suche dein Gesicht in meinem Hinterhof. Die nächsten Kilometer gehe ich, ohne Umwege zu machen, dem Zenith des Hügels entgegen, während der Kühlschrank abtaut und die Buchstaben von Wort zu Wort hüpfen. Fang den Hut, wenn du ihn kriegen kannst. Ich habe meinen bereits wiederholt zum Einsammeln von Geldscheinen missbraucht.

„Voodoo Firlefanz“: 
Zu bestellen über den Brot und Kunst-Verlag
oder über: derpaulblau@web.de

Dienstag, 24. November 2015

002 „Kirschkerntage“ - LESEPROBE


Alle Dinge groß  

Als ich klein bin, sind alle Dinge groß. Ich bin ein Kind der Schiefertafelzeit und der Lederranzen, ein Kind der Holzfeuerungen, weshalb ich auch jetzt manchmal in französischen Bergdörfern die Nase in die Luft strecke, als wollte ich ein wenig an der früheren Zeit riechen. Und Zeppeline, diese Wale der Luft, schweben wie beruhigende, gutmütige Formen durch meinen Himmel, sind wie stumme Wächter über dieses noch zerbrechliche Wesen, das ich bin. Und die Tage sind voll von diesen ersten Malen, alles ist neu, verklärt, unschuldig und berauschend.Als ich klein bin, sind alle Dinge groß. Als ich wachse, werden sie so winzig, dass sie problemlos in diese Wundertüten passen, die es beim Lebensmittel Mörke dort unten am Ende der Hartmannstraße zu kaufen gibt, dieser Straße, in deren Welt sich all das ereignet, was mich erfüllt in den frühen Jahren.


Spielplatzbrühe
Kinderurin – Wasser - Gemisch in stinkiger aufgeheizter Spielplatzbrühe in der Wredestraße, ein blaues, dreißig Zentimeter tiefes abblätterndes Steinbecken, vollgesandet, das ein einziges Geschrei und Wassergepruste enthält und das Geheul getunkter Jungs und hilfloser umherirrender nackter Kleinkinder, die den Anschluss an die Welt verloren haben, drei Meter entfernt von den Wäscheleinen und den Loggias, und in irgendeinem kleinen Transistorradio träumen die Beach Boys allmiteinand von Barbara Ann und von keinem Mädel sonst auf der Welt, dabei sind die kleinen Würzburgerinnen doch auch nicht zu verachten. Auf den Bänken unterhalten sich die jungen Mütter, Kochrezepte austauschend, mit Turmfrisuren und in Blusen, die der letzte Schrei sind, immer einen halben Blick auf die Kinder gerichtet, die irgendwo herumspringen und die sie in der lärmenden Menge gezielt heraus erkennen.

Zirkusluft
Der große Platz dort unten bei den Mainwiesen wird in den warmen Monaten manchmal von fahrendem Volk eingenommen. Zirkus in der Stadt! Einen Tag bevor die Vorstellungen beginnen, ziehen Artisten, Spaßmacher und Fakire in Schrittgeschwindigkeit durch unsere Straßen, ein Umzug, der von stattlichen Elefanten mit Königskronen auf den Häuptern, die mit ihren Rüsseln wie aus Gartenschläuchen Wasser auf die ausgetrockneten Gehsteige spritzen, sowie radschlagenden Grazien angeführt wird, hinterdrein fährt ein zerbeulter bunt bedruckter VW - Käfer, aus dessen heruntergekurbelten Fenstern ein Megaphonmann die Anwesenheit der Zirkustruppe laut hörbar ins Viertel schreit. Weithin sichtbar ist das dunkelblaue Zelt mit den roten Punkten, und es sieht aus, als hätte sich plötzliche Farbe unserer Gegend bemächtigt. Das ganze Areal wird weitläufig abgesperrt, und wie eine Wagenburg stehen darin die mit dicken Buchstaben bemalten Wohnwägen der Darsteller, die vergitterten Käfige der Raubtiere, sowie einige Sattelschlepper. Wenn unsere Großeltern oder Tanten in Festtagslaune sind, gehen sie mit uns in eine der Nachmittagsvorstellungen. Schon an der Kasse werden wir in Bann gezogen: Denn da sitzt eine üppig geschminkte Dame in einer Schlangenuniform, auf deren Schultern ein behendes Äffchen turnt und ihr mit seinem Schwanz immer wieder die schwarzen Augenbrauen nachzieht. Für die nächsten zwei Stunden wird uns der Mund einfach offen stehen bleiben... Wir treten in die Manege, indem wir einen schweren Vorhang mühsam beiseite ziehen. Ein weißgesichtiger Harlekin mit blauen, unter den Augen aufgemalten Tränen zeigt uns unsere Sitzplätze. Im Innern des Zeltes riecht es nach Pferdesand, der Duft edler Araber vermischt mit Schminke und Kalk, ein einzigartiger, nur dort vorkommender Geruch. Majestätische Fanfaren ertönen. Der Direktor  in Schwalbenschwanz und Zylinder verkündet durch das uns bekannte Megaphon den Beginn der Vorstellung. Von Bild zu Bild gerate ich tiefer in die Farbigkeit einer immer bunter werdenden Traumkulisse. Schönes gesellt sich zu Schrecklichem, das Lachen wechselt sich mit Angst und Zittern ab. Da stellen sich afrikanische Elefanten, auf deren Kopfhaut mit Kreide Mandalas gezeichnet sind, mit ihren Vorderfüßen auf die Rücken ihrer Artgenossen, angeführt von einem Turbanmenschen, der Asche aus seinen breiten Ärmeln zaubert und diese ins Publikum streut. Da reitet eine rassige Schönheit einbeinig auf dem Rücken eines Apfelschimmels stehend in einem Höllenzahn durch die Manege, und ich glaube, in ihr die Frau von der Kasse wieder zu erkennen. Da purzeln Liliputaner übereinander und hauen sich Backsteine an die Köpfe, ohne Verletzungen davon zu tragen. Da wirft einer blutige Messer haarscharf an den anmutigen feuchten Wimpern einer Meerjungfrau vorbei. Fünf Rhesusäffchen klauen einem Bettler seinen Marmeladentoast vom Teller, ein Orang-Utan gewinnt beim Armdrücken gegen sein Herrchen und darf daraufhin dessen Fuß verspeisen. Der dumme August, hinter dessen Zähnen sich Dolche verstecken, ärgert einen weißen Clown mit einem Melitta – Kaffeefilteraufsatz auf dem Kopf, indem er immer wieder heißen Kaffee hineingießt, der diesem am Gesicht herunterrinnt. Der Weiße streckt seine Zunge heraus, um etwas von der heißen Brühe in den Mund zu bekommen. Aber es ist vergeblich. Zur Belohnung schlägt August zwei rohe Eier auf dessen Nase auf und stopft ihm diese ins violett angepinselte Maul.
Die Sensation ist eine Gruppe von Königstigern, die auf Podeste hüpfen und durch brennende Reifen springen und denen ein wagemutiger, von asiatischem Lächeln gezeichneter Dompteur ein paar fette, blutige Knochen zur Belohnung in die triefenden Mäuler stopft. Er selber kommt ein jedes Mal davon, weil er einen gezwieselten Schnurrbart trägt, den die Tiger verabscheuen. An eben demselben Bärtchen schwingt sich dieser Hüne wie ein gewaltiger Tarzan von Liane zu Liane an der Kuppel aufgehängt durch die Lüfte. Leise fliegt ihm die Zirkusdiva auf einer schmalen Schaukel hinterher und lässt riesige Regenbogenseifenblasen aus einem Eimerchen hinunter in die Menge gleiten, die nach Coca Cola schmecken. In den sternenförmigen Scheinwerfern blenden mich die Pailletten ihres körperbetonten Froschanzugs bis hinauf ins staubende Firmament. Ein Seiltänzer balanciert eine übergroße Spiegelkugel von einer Manegenseite zur andern und als er nach unten springt, bleibt das Grinsen eines Sarottimohren einen Augenblick lang in der Luft stehen, um sich danach in Nichts aufzulösen. Ein Tanzbär vollführt mit einer Frau, die zwei Köpfe auf ihrem Hals spazieren trägt, einen Tango, und als er sie flach zu legen versucht, erlischt das Licht. Ende. Tosender Beifall. Noch einmal stolzieren alle Darsteller aus der Kulisse heraus und bewerfen die Kinder in den ersten Reihen mit Konfetti, verneigen sich, verschwinden, erscheinen von Neuem, schlagen Purzelbäume und stecken schönen Mädchen kurzlebige Küsse in die Ausschnitte. Wir taumeln hinaus. Es dämmert bereits. Noch tagelang folgen uns die Szenen bis in die letzten Ecken unserer Phantasie, sie lassen uns nicht los, und ich male an einem Nachmittag siebzehn Wasserfarbenbilder hintereinander, die ich an meine sämtlichen Verwandten verschenke.

Budapest
Schon im Abteil auf der ewiglangen Zugfahrt kreisen die Flaschen hin und her und wir sehen vor lauter Rauch unsere eigenen Hände nicht mehr, geschweige denn unsere Gesichter, aber die Hunde lassen uns passieren, auch die scharfen Grenzer wittern nichts und denken nur an die westlichen Devisen, die wir ins Land bringen.
Begleitet werden wir von unserem kleinen Musiklehrer mit seinem wirren Lockengewirr und seinem Zwirbelschnauzbart, der von einer ungarischen Großmutter abstammt, und von dem schmächtigen gesichtslosen blassen Herrn Gaier, der mit zweideutigen Sätzen sein nichtssagendes Leben zu überspielen versucht und der natürlich immer wegschaut, weil er nicht auffallen will oder weil er am liebsten insgeheim auch einer von uns sein möcht.
Als wir in der Hauptstadt ankommen, dreht der Boden unter unseren Füßen bereits durch. Da ist die Spiegelung eines Turmes im gebräunten Fensterglas des Budapest Hilton, in dem wir als Gymnasiasten fast jeden Tag Gulasch essen, da wir Geld haben wie Heu, - damals, als wir in den Ostblock eindringen, zumal Georg sich der Gefahr eines Schwarzumtausches von Deutschen Mark in ungarische Forint auf einer zwielichtigen Brücke aussetzt. Die magischen gegenlichtigen Leuchtfarben der Michaelskirchenfenster gegen die Düsternis des Kirchenschiffs, eine Taube, die in einem Brunnen badet, den eine steinerne Nackedei mit wohlgeformten Brüsten und einem makellosen Körper wie eine Afrikanerin auf dem Kopf trägt, das plüschige Hotel in der Nähe des Deak ter, wo unser Zimmer zum Ort allabendlicher Trinkgelage auserkoren wird, so dass wir nie zum Schlafen kommen, und Bier schon in den Nachmittagsstunden fließt, und sich schwere fette Salami bereits auf dem Frühstücksbrötchen findet, aber das drücken wir uns rein, denn schließlich sind wir in Ungarn. Und in einer Nacht ist der Gerhard Graf, ein ländlich einfältiger Junge aus Estenfeld, so besoffen, dass wir ihn zu viert in sein Bett tragen und entsprechend lagern müssen, damit er nicht den gleichen Heldentod stirbt wie Jimi Hendrix. Der unerbittliche Wind, der uns durch die Andrassy ut weht wie durch einen Kamin, uns auf den Heldenplatz wirft, wo stumme, aber wildgesichtige ungarische Reiter in ihrer Bewegung erstarrt, argwöhnisch auf uns herunterblicken und sich doch nicht rühren können. In ihren Augen sind wir westlicher Abschaum, kulturlos und ohne Anstand. Da ist die kalte, märzsonnenbeschienene Erde zwischen den Gellertberg - Serpentinen, wo wir auf dem Boden hocken und hinunter schauen auf die dunstige Vielbrückenstadt, und einige kiffen zwischen den schwadronierenden allgegenwärtigen Volkspolizisten einfach durch, ein wenig Schiss haben wir natürlich schon, aber wir lassen es uns natürlich niemals anmerken. Und dann die Restaurantabende mit diesen Original Zigeunergeigern, die direkt aus der Puszta an unseren Tisch importiert worden sind, bei angetrunkenem Gelächter. Und die prunkvollen lüsterstrotzenden Kavezos, das Cafe´ Hungaria, wo wir einen Palatschinken nach dem anderen verdrücken, bis uns schlecht ist. Wir fahren in quietschenden, rumpeligen Straßenbahnen herum, steigen irgendwo ein und irgendwo aus, womöglich am Moskva ter. Wir spielen uns auf wie unantastbare Superstars, dabei sind wir nur Schüler, denen die Welt gehört.

„Kirschkerntage“:
zu bestellen über den Buchhandel ISBN: 978-3-943528-34-3

001 Hinweise


Der Brot & Kunst - Verlag
Mit anderen Autoren gemeinsam habe ich Texte im Brot & Kunst-Verlag veröffentlicht. Nähere Infos dazu unter:
www.brotundkunst.com

Die Paul Blau - Homepage:
Nimm dir ruhig Zeit für einen ausführlichen Spaziergang...
www.paulblau.org

Photographien von Paul Blau - ein Porträt (2016) von Jürgen Linde
http://www.kunstportal-bw.de/paulblau1.html

2 Literaturporträts (1999) (2010) von Jürgen Linde
http://www.kunstportal-bw.de/martin1.html
www.kunstportal-bw.de/MartinSchmittlyrik1.html

Web-Site, gestaltet von Jürgen Linde
Diese ist vor längerer Zeit entstanden, - und ist für die, die etwas sehen wollen vom Zauber der „früheren Jahre“:
www.kunstportal-bw.de/MartinSchmitt

Youtube-Präsenz
Und wer gerne schaut und hört, dem sei mein Youtube-Konto empfohlen:
www.youtube.com/user/DerPaulBlau

Email-Adresse
...wenn du mir außerhalb des Blogs schreiben willst:
derpaulblau@web.de