Alle Dinge groß
Als ich klein bin, sind alle Dinge groß. Ich bin ein Kind der Schiefertafelzeit und der Lederranzen, ein Kind der Holzfeuerungen, weshalb ich auch jetzt manchmal in französischen Bergdörfern die Nase in die Luft strecke, als wollte ich ein wenig an der früheren Zeit riechen. Und Zeppeline, diese Wale der Luft, schweben wie beruhigende, gutmütige Formen durch meinen Himmel, sind wie stumme Wächter über dieses noch zerbrechliche Wesen, das ich bin. Und die Tage sind voll von diesen ersten Malen, alles ist neu, verklärt, unschuldig und berauschend.Als ich klein bin, sind alle Dinge groß. Als ich wachse, werden sie so winzig, dass sie problemlos in diese Wundertüten passen, die es beim Lebensmittel Mörke dort unten am Ende der Hartmannstraße zu kaufen gibt, dieser Straße, in deren Welt sich all das ereignet, was mich erfüllt in den frühen Jahren.
Kinderurin
– Wasser - Gemisch in stinkiger aufgeheizter Spielplatzbrühe in der
Wredestraße, ein blaues, dreißig Zentimeter tiefes abblätterndes Steinbecken,
vollgesandet, das ein einziges Geschrei und Wassergepruste enthält und das
Geheul getunkter Jungs und hilfloser umherirrender nackter Kleinkinder, die den
Anschluss an die Welt verloren haben, drei Meter entfernt von den Wäscheleinen
und den Loggias, und in irgendeinem kleinen Transistorradio träumen die Beach
Boys allmiteinand von Barbara Ann und von keinem Mädel sonst auf der Welt,
dabei sind die kleinen Würzburgerinnen doch auch nicht zu verachten. Auf den
Bänken unterhalten sich die jungen Mütter, Kochrezepte austauschend, mit
Turmfrisuren und in Blusen, die der letzte Schrei sind, immer einen halben
Blick auf die Kinder gerichtet, die irgendwo herumspringen und die sie in der
lärmenden Menge gezielt heraus erkennen.
Der
große Platz dort unten bei den Mainwiesen wird in den warmen Monaten manchmal
von fahrendem Volk eingenommen. Zirkus in der Stadt! Einen Tag bevor die
Vorstellungen beginnen, ziehen Artisten, Spaßmacher und Fakire in
Schrittgeschwindigkeit durch unsere Straßen, ein Umzug, der von stattlichen
Elefanten mit Königskronen auf den Häuptern, die mit ihren Rüsseln wie aus
Gartenschläuchen Wasser auf die ausgetrockneten Gehsteige spritzen, sowie
radschlagenden Grazien angeführt wird, hinterdrein fährt ein zerbeulter bunt
bedruckter VW - Käfer, aus dessen heruntergekurbelten Fenstern ein Megaphonmann
die Anwesenheit der Zirkustruppe laut hörbar ins Viertel schreit. Weithin
sichtbar ist das dunkelblaue Zelt mit den roten Punkten, und es sieht aus, als
hätte sich plötzliche Farbe unserer Gegend bemächtigt. Das ganze Areal wird
weitläufig abgesperrt, und wie eine Wagenburg stehen darin die mit dicken
Buchstaben bemalten Wohnwägen der Darsteller, die vergitterten Käfige der Raubtiere,
sowie einige Sattelschlepper. Wenn unsere Großeltern oder Tanten in
Festtagslaune sind, gehen sie mit uns in eine der Nachmittagsvorstellungen.
Schon an der Kasse werden wir in Bann gezogen: Denn da sitzt eine üppig
geschminkte Dame in einer Schlangenuniform, auf deren Schultern ein behendes
Äffchen turnt und ihr mit seinem Schwanz immer wieder die schwarzen Augenbrauen
nachzieht. Für die nächsten zwei Stunden wird uns der Mund einfach offen stehen
bleiben... Wir treten in die Manege, indem wir einen schweren Vorhang mühsam
beiseite ziehen. Ein weißgesichtiger Harlekin mit blauen, unter den Augen
aufgemalten Tränen zeigt uns unsere Sitzplätze. Im Innern des Zeltes riecht es
nach Pferdesand, der Duft edler Araber vermischt mit Schminke und Kalk, ein einzigartiger,
nur dort vorkommender Geruch. Majestätische Fanfaren ertönen. Der Direktor in Schwalbenschwanz und Zylinder verkündet
durch das uns bekannte Megaphon den Beginn der Vorstellung. Von Bild zu Bild
gerate ich tiefer in die Farbigkeit einer immer bunter werdenden Traumkulisse.
Schönes gesellt sich zu Schrecklichem, das Lachen wechselt sich mit Angst und
Zittern ab. Da stellen sich afrikanische Elefanten, auf deren Kopfhaut mit
Kreide Mandalas gezeichnet sind, mit ihren Vorderfüßen auf die Rücken ihrer
Artgenossen, angeführt von einem Turbanmenschen, der Asche aus seinen breiten
Ärmeln zaubert und diese ins Publikum streut. Da reitet eine rassige Schönheit
einbeinig auf dem Rücken eines Apfelschimmels stehend in einem Höllenzahn durch
die Manege, und ich glaube, in ihr die Frau von der Kasse wieder zu erkennen.
Da purzeln Liliputaner übereinander und hauen sich Backsteine an die Köpfe,
ohne Verletzungen davon zu tragen. Da wirft einer blutige Messer haarscharf an
den anmutigen feuchten Wimpern einer Meerjungfrau vorbei. Fünf Rhesusäffchen
klauen einem Bettler seinen Marmeladentoast vom Teller, ein Orang-Utan gewinnt
beim Armdrücken gegen sein Herrchen und darf daraufhin dessen Fuß verspeisen.
Der dumme August, hinter dessen Zähnen sich Dolche verstecken, ärgert einen
weißen Clown mit einem Melitta – Kaffeefilteraufsatz auf dem Kopf, indem er
immer wieder heißen Kaffee hineingießt, der diesem am Gesicht herunterrinnt.
Der Weiße streckt seine Zunge heraus, um etwas von der heißen Brühe in den Mund
zu bekommen. Aber es ist vergeblich. Zur Belohnung schlägt August zwei rohe
Eier auf dessen Nase auf und stopft ihm diese ins violett angepinselte Maul.
Die
Sensation ist eine Gruppe von Königstigern, die auf Podeste hüpfen und durch
brennende Reifen springen und denen ein wagemutiger, von asiatischem Lächeln
gezeichneter Dompteur ein paar fette, blutige Knochen zur Belohnung in die
triefenden Mäuler stopft. Er selber kommt ein jedes Mal davon, weil er einen
gezwieselten Schnurrbart trägt, den die Tiger verabscheuen. An eben demselben
Bärtchen schwingt sich dieser Hüne wie ein gewaltiger Tarzan von Liane zu Liane
an der Kuppel aufgehängt durch die Lüfte. Leise fliegt ihm die Zirkusdiva auf
einer schmalen Schaukel hinterher und lässt riesige Regenbogenseifenblasen aus
einem Eimerchen hinunter in die Menge gleiten, die nach Coca Cola schmecken. In
den sternenförmigen Scheinwerfern blenden mich die Pailletten ihres
körperbetonten Froschanzugs bis hinauf ins staubende Firmament. Ein Seiltänzer
balanciert eine übergroße Spiegelkugel von einer Manegenseite zur andern und
als er nach unten springt, bleibt das Grinsen eines Sarottimohren einen
Augenblick lang in der Luft stehen, um sich danach in Nichts aufzulösen. Ein
Tanzbär vollführt mit einer Frau, die zwei Köpfe auf ihrem Hals spazieren
trägt, einen Tango, und als er sie flach zu legen versucht, erlischt das Licht.
Ende. Tosender Beifall. Noch einmal stolzieren alle Darsteller aus der Kulisse
heraus und bewerfen die Kinder in den ersten Reihen mit Konfetti, verneigen sich,
verschwinden, erscheinen von Neuem, schlagen Purzelbäume und stecken schönen
Mädchen kurzlebige Küsse in die Ausschnitte. Wir taumeln hinaus. Es dämmert
bereits. Noch tagelang folgen uns die Szenen bis in die letzten Ecken unserer
Phantasie, sie lassen uns nicht los, und ich male an einem Nachmittag siebzehn
Wasserfarbenbilder hintereinander, die ich an meine sämtlichen Verwandten
verschenke.
Schon
im Abteil auf der ewiglangen Zugfahrt kreisen die Flaschen hin und her und wir
sehen vor lauter Rauch unsere eigenen Hände nicht mehr, geschweige denn unsere
Gesichter, aber die Hunde lassen uns passieren, auch die scharfen Grenzer
wittern nichts und denken nur an die westlichen Devisen, die wir ins Land
bringen.
Begleitet
werden wir von unserem kleinen Musiklehrer mit seinem wirren Lockengewirr und
seinem Zwirbelschnauzbart, der von einer ungarischen Großmutter abstammt, und
von dem schmächtigen gesichtslosen blassen Herrn Gaier, der mit zweideutigen
Sätzen sein nichtssagendes Leben zu überspielen versucht und der natürlich
immer wegschaut, weil er nicht auffallen will oder weil er am liebsten
insgeheim auch einer von uns sein möcht.
Als
wir in der Hauptstadt ankommen, dreht der Boden unter unseren Füßen bereits
durch. Da ist die Spiegelung eines Turmes im gebräunten Fensterglas des
Budapest Hilton, in dem wir als Gymnasiasten fast jeden Tag Gulasch essen, da
wir Geld haben wie Heu, - damals, als wir in den Ostblock eindringen, zumal
Georg sich der Gefahr eines Schwarzumtausches von Deutschen Mark in ungarische
Forint auf einer zwielichtigen Brücke aussetzt. Die magischen gegenlichtigen
Leuchtfarben der Michaelskirchenfenster gegen die Düsternis des Kirchenschiffs,
eine Taube, die in einem Brunnen badet, den eine steinerne Nackedei mit
wohlgeformten Brüsten und einem makellosen Körper wie eine Afrikanerin auf dem
Kopf trägt, das plüschige Hotel in der Nähe des Deak ter, wo unser Zimmer zum
Ort allabendlicher Trinkgelage auserkoren wird, so dass wir nie zum Schlafen
kommen, und Bier schon in den Nachmittagsstunden fließt, und sich schwere fette
Salami bereits auf dem Frühstücksbrötchen findet, aber das drücken wir uns
rein, denn schließlich sind wir in Ungarn. Und in einer Nacht ist der Gerhard
Graf, ein ländlich einfältiger Junge aus Estenfeld, so besoffen, dass wir ihn
zu viert in sein Bett tragen und entsprechend lagern müssen, damit er nicht den
gleichen Heldentod stirbt wie Jimi Hendrix. Der unerbittliche Wind, der uns
durch die Andrassy ut weht wie durch einen Kamin, uns auf den Heldenplatz
wirft, wo stumme, aber wildgesichtige ungarische Reiter in ihrer Bewegung
erstarrt, argwöhnisch auf uns herunterblicken und sich doch nicht rühren
können. In ihren Augen sind wir westlicher Abschaum, kulturlos und ohne
Anstand. Da ist die kalte, märzsonnenbeschienene Erde zwischen den Gellertberg
- Serpentinen, wo wir auf dem Boden hocken und hinunter schauen auf die
dunstige Vielbrückenstadt, und einige kiffen zwischen den schwadronierenden
allgegenwärtigen Volkspolizisten einfach durch, ein wenig Schiss haben wir
natürlich schon, aber wir lassen es uns natürlich niemals anmerken. Und dann
die Restaurantabende mit diesen Original Zigeunergeigern, die direkt aus der
Puszta an unseren Tisch importiert worden sind, bei angetrunkenem Gelächter.
Und die prunkvollen lüsterstrotzenden Kavezos, das Cafe´ Hungaria, wo wir einen
Palatschinken nach dem anderen verdrücken, bis uns schlecht ist. Wir fahren in
quietschenden, rumpeligen Straßenbahnen herum, steigen irgendwo ein und
irgendwo aus, womöglich am Moskva ter. Wir spielen uns auf wie unantastbare
Superstars, dabei sind wir nur Schüler, denen die Welt gehört.
„Kirschkerntage“:
zu bestellen über den Buchhandel ISBN: 978-3-943528-34-3
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